Deine Wertschöpfung im Alltag -

Novembertag

Nach einer Weihnachtsfeier, eile ich an der Heinrich-Heine-Alle im Underground zu Düsseldorfs neuen U-Bahnkatakomben in Richtung Bilk.
Eine Frau, klein, untersetzt, etwas ungepflegt mit langen, grauen Haaren und Rucksack setzt an, mir etwas zu sagen. „Ich habe kein Geld“, entfährt es mir im Vorbeigehen. Daraufhin höre ich von hinten „Wer sagt denn, dass ich Geld von Dir will?“. Ich bleibe stehen, drehe mich um und schaue sie an. „O.K. Was möchtest Du?“ frage ich sie.
Sie holt tief Luft und fängt sehr höflich an ihr „Sprüchlein“ aufzusagen, dass ich nur noch zum Teil inhaltlich wieder geben kann, es scheint tatsächlich auswendig gelernt und ist etwas in Verse verpackt. Sie sei seit 2 Jahren auf „Wanderschaft“…, draussen sei es sehr kalt, sie habe heute kein Glück gehabt einen Schlafplatz zu finden und würde immer noch verzweifelt suchen, ob ich sie beherbergen könne? Ich schaue sie wieder direkt an und denke: „Gott ist das mutig… oder verzweifelt.“ Was es auch immer ist, diese direkte Ansprache und Vehemenz hat ein Handeln verdient. Geistesgegenwärtig stimme ich zu, allerdings nicht, ohne ihr mitzuteilen, sie müsse mit mir morgen früh um 7:15 das Haus verlassen. Das würde ihr gar nichts aus machen, 7:15 sei doch gar nich so früh. Ein Strahlen erscheint auf ihrem Gesicht.
Wenn ich sie nicht auf mein Ticket mitnehmen könne, wolle sie sich die Fahrkarte selbst bezahlen, sagt sie noch. Wir gehen zur Bahn.
Was sie nach Düsseldorf bringt will ich wissen. Irmi* erzählt mir, sie habe letztes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt ausgeholfen. Sie sei immer zwischen zwei Buden hin und her gelaufen, als Botin, quasi. Die Buden gehörten zusammen. Ein Sohn und seine Mutter hätten sie betrieben. Der Verdienst sei nicht hoch gewesen, aber es habe Spaß gemacht, die Menschen seien nett gewesen. Danach sei der Sohn nach Asien gegangen, da er neue Artikel für seinen Handel besorgem musste. Sie vermutete ihn im Winter zurück und wollte ihr Glück erneut versuchen. Sie traf die Menschen vom letzten Jahr an. Von ihnen erfuhr sie, dass der junge Mann in Asien umgekommen ist.
Dann sagt sie zu mir, ich soll mir vier Wörter ausdenken. Sie möchte mir als Dankeschön ein Gedicht schreiben, in dem diese 4 Wörter vorkommen. Durch Dichten würde sie sich immer wieder, neben Katzensitting-Jobs, Housesitting-Jobs usw… Geld verdienen.
Als wir bei mir sind, klappe ich die Couch aus. Ich lege ihr ein Handtuch hin und sage ihr, sie könne das Bad benutzen. Die zwei Jahre „Wanderschaft“ halte ich für eine sehr komprimierte Darstellung. Am nächsten Morgen vermute ich, sie hat in Kleidung geschlafen, nur ihre Schuhe sind ausgezogen, das Handtuch ist unbenutzt. Wir unterhalten uns noch etwas auf dem Weg zum Bahnhof. Das Bahnticket zahlt sie selber. Weil sie es so will. Ich kaufe ihr ein Frühstück und will ihr noch bei Tchibo neue, warme Socken, für ihre Schuhe holen. Sie bittet mich ehrlich und direkt darum, ihr lieber die 5 Euro zu geben, da habe sie mehr von. Sie gibt an, für neue Schuhe zu sparen, vielleicht möchte sie aber auch einfach nur davon weiter leben und sich etwas zum Essen kaufen, ich weiss es nicht. Sie riecht zu keinem Zeitpunkt nach Alkohol. Ich erfahre noch einiges mehr über ihr Leben. Sie erzählt mir, was für Menschen sie auf Ihrer „Wanderschaft“ kennen gelernt hat, wo es besonders nett war usw…ob es stimmt oder nicht, wer weiss es. Sie habe auch mal sehr gut Querflöte gespielt und an der Oper gearbeitet.

Aber da war ja auch noch der Abend. Als ich ihr etwas zum Essen anbiete, möchte sie lediglich 2 Gläser heißes Wasser, worin sie sich ihren Kaffee auflöst, den sie zum Teil am nächsten Morgen kalt trinkt. Sie mag das so. Irmi* fragt mich, kaum das sie ihren Rucksack abgelegt hat, nach den 4 Wörtern: ENERGIE – GLÜCK – VERGANGEHEIT – SCHICKSAL
Sofort fängt Sie, auf einem blauen Papier, an zu schreiben. Am nächsten Morgen sitzt Sie auch wieder daran. Dann ist es soweit. Ich lese laut vor:

– Für Steffi – Novembertag
Hebst Du die Energie wohl an,
kannst Du glücklich werden gar dann.
Glück ist den anderen wachsen + blühen seh´n
und sich selbst treu bleiben (alter pädagogischer Grundsatz),
so ist das Leben leicht zu verstehn.
Glück ist wie Eis unter der Sahne
oder ein Schiff,
das in ruhigen Gewässern den Weg lang bahne.
Energie ist wie Nudeln in der Suppe,
dem Kind Bär oder Puppe.
Fließt die Energie frei + oben,
denkst Du positiv + hast jeden Tag viel zu loben.
Gibst Du Energie weiter dann,
machst Du, dass auch ein andrer Mensch
zufrieden in seiner Mitte sein kann.
Alles ist Energie.
Das ist das Gute und merke,
Energie, gibt Fülle, Kraft, Mut + Stärke.
Jeder Mensch wird seine Lebensaufgabe + sein Schicksal haben,
erinnert er sich, kann er sich an Autenthizität, Stimmigkeit + Dankbarkeit laben.
Vergangenheit prägt das Leben mit,
sind doch Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft zu dritt.
Doch am Einfachsten ist es im Jetzt zu stehn,
kannst Du dann vom Jetzt zum Jetzt in die Zukunft zufrieden sehn.

Irmi* und ich strahlen.

* Name geändert

Die Krücken

Sieben Jahre wollt kein Schritt mir glücken.
Als ich zu dem großen Arzte kam,
Fragte er: Wozu die Krücken?
Und ich sagte: Ich bin lahm.

Sagte er: das ist kein Wunder.
Sei so freundlich, zu probieren!
Was Dich lähmt, ist dieser Plunder.
Geh, fall, kriech auf allen Vieren!

Lachend wie ein Ungeheuer
Nahm er meine schönen Krücken,
Brach sie durch auf meinem Rücken,
Warf sie lachend in das Feuer.

Nun, ich bin kuriert: ich gehe.
Mich kurierte ein Gelächter.
Nur zuweilen, wenn ich Hölzer sehe,
Gehe ich für Stunden etwas schlechter.

Berthold Brecht